Torment: Tides of Numenera – Fantasy-Epos mit viel Text
Planescape: Torment hat mich im Jahr 2000 wie kein anderes Rollenspiel in seinen Bann gezogen. Die Vielfältigkeit und Tiefgründigkeit der Charaktere sowie die großartige Story waren für mich damals bahnbrechend und waren für mich ausschlaggebend, dass ich mich für Rollenspiele begeistern konnte. Als ich dann 2013 davon erfuhr, dass ein geistiger Nachfolger des alten Spiels über Kickstarter finanziert wird, habe ich nicht lange gezögert. Mit einem Spendenbetrag von 35 US-Dollar bin ich als Backer in das Projekt Torment: Tides of Numenera eingestiegen und durfte dann die Erfolgsgeschichte des Games auf Kickstarter miterleben. Ich möchte euch hier meine Eindrücke aus dem Spiel und der Kampagne aus erster Hand schildern und euch damit zeigen, dass auch einige gut geplante und seriöse Crowdfunding-Kampagnen existieren.
Als das US-amerikanische Entwicklerstudio inXile Entertainment, auch verantwortlich für die Bardstale-Reihe, auf Kickstarter das Projekt Torment: Tides of Numenera einstellte, gab es ein überwältigendes Feedback. Schließlich war das Spiel nicht weniger als der lang erwartete „geistige“ Nachfolger des im Jahr 2000 erschienenen Computerspiels Planescape: Torment. Bereits in den ersten Stunden wurde das Spendenziel von 900.000 US-Dollar erreicht und es ging weiter. Nach 30 Tagen Laufzeit hatten mehr als 74.400 Backer das Projekt mit fast 4,2 Mio. US-Dollar gefördert. Am Ende der Kampagne hatte das Projekt mehrere Rekorde auf Kickstarter gebrochen. Bevor ich auf die Gründe des Erfolgs weiter eingehe, möchte ich euch aber zunächst ein paar Fakten zum Game mit auf den Weg geben.
Was ist Tides of Numenera
Tides of Numenera basiert auf der entsprechenden Pen & Paper-Vorlage des Spieleentwicklers Monte Cook, der auch an der Entwicklung von Planescape beteiligt war. Der Handlungsstrang spielt eine Milliarden Jahre in der Zukunft, wo es einem „Gott“ mithilfe von uralter Technologie gelingt, den Tod zu überwinden. Dafür nutzt er die sogenannten Numenera, die ihm helfen sein Gedächtnis in immer neue Körper zu transferieren. So schafft er es eine unglaubliche Menge an Wissen anzuhäufen und wird darüber letztendlich als Gott verehrt. Zeitgleich tritt aber auch ein sogenannter Hüter des Gleichgewichts auf, der nun Jagd auf den „allwissenden Gott“ und die abgelegten, ehemaligen Körper, die Verstoßenen, macht.
Eine Hülle sucht nach Antworten – es gibt viel zu lesen
Zu Beginn des Spiels startet man als die letzte abgelegte „Hülle“ des allwissenden Gottes. Man ist geschwächt und geistig umnachtet aber man ist am Leben und darf nun seine Charakterklasse inklusive Fertigkeiten und Charakterwerte bestimmen. Da man selbst keine Erinnerungen an die Handlungen des Gottes nach der Inbesitznahme hat, geht es nun darum Antworten zu finden und einigen bösen Buben kräftig auf die Fresse zu hauen. Dies kann man entweder als Hightech-Magier (Nano), Elite-Krieger (Glaive) oder als eine Art Schurke bzw. Allrounder (Jack) tun.
Ein großer Vorteil von Planescape: Torment war die herausragende Gefährten- und NPC-Interaktion und die Vielzahl an Möglichkeiten das Spiel zu spielen. Dankenswerterweise hat man das nicht vergessen und fokusiert sich auch bei Tides of Numenera auf diese Stärken. Jeder der sechs rekrutierbaren Gefährten verfügt über spezielle Eigenschaften und eine eigene Geschichte, die es zu entdecken gilt. Dies passiert aber nicht über ausgedehntes Voice-Acting oder Cut-Szenen. Nein, ihr müsst wie bei Dungeon & Dragons Spielen üblich sehr viel lesen – sehr sehr viel lesen. Ein sehr guter Aspekt des Spiels ist die Interaktion mit der Spielwelt. Genau wie in Planescape gibt es eine Art Moralsystem, welches durch das Verhalten des Spielers beeinflusst wird. Hier gibt es allerdings kein Gut und Böse, sondern man unterscheidet fünf Tides (Gezeiten).
Das Moralssystem von Tides of Numenera
In Gesprächen kann man unterschiedlichste Antworten wählen, die im Kern eine der fünf Tides repräsentieren – rot, blau, gold, indigo und silber. Rot steht dabei für Emotionen und Leidenschaft. Blau fokusiert sich auf Weisheit und Einsicht. Die goldene Tide repräsentiert im Spiel Empathie und Fürsorglichkeit. Indigo gilt als Strömung für Gerechtigkeit und Kompromisse. Und die letzte Strömung „Silber“ steht für Stärke und Berühmtheit. Basierend auf euren getätigten Entscheidungen ergibt sich so eine Wichtung bzw. Fokusierung auf eine oder mehrere der Tides.
Ein weiteres Merkmal des Spiels ist die Ausdehnung der Spielwelt auf die Totenwelt. Wenn man stirbt, gibt es keinen üblichen Lade-Screen, stattdessen wechselt man in das Totenreich und kann sich so mit verbundenen Geistern austauschen bzw. nichtmaterielle Orte besuchen. Die so geknüpften Beziehungen sind nicht nur ein nettes Gimmick sondern können sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf die reale Welt mitsichziehen oder sogar neue Kräfte verleihen. Vergessene Erinnerungen können außerdem neu entdeckt werden und über sogenannte Lebensbilder ist außerdem das Eintauchen in fremde Erinnerungen möglich. Hier ergeben sich eine Vielzahl von Möglichkeiten, die mich extrem begeistert haben.
Kinderkrankheiten zum Release
Tides of Numenera ist vollgepackt mit interessanten NPCs und tollen Orten. Leider fiel die Größe der Spielwelt entgegen anfänglicher Erwartungen etwas klein aus. Die Inhalte sind zwar detailreich und wunderbar in Szene gesetzt, trotzdem hätte ich mir persönlich noch etwas mehr Spielumfang gewünscht. Ein weiterer Wehrmutstropfen war auch das Fehlen des angekündigten Crafting-Systems sowie die Reduzierung der angekündigten Begleiter von 9 auf 6. Auch die Entscheidung zur Verkleinerung der zweiten Stadt Oasis und die Fokusierung auf die Start-Stadt Bloom wirkten für mich am Ende etwas unglücklich, da die Kulisse irgendwann „abgenutzt“ war.
Zum Release des Spiels traten vermehrt Fehler in der deutschen Übersetzung auf. Dieselben Namen und Charakter-Werte wurden teilweise mit drei verschiedenen Bezeichnungen übersetzt. Das führte speziell am Anfang dieses komplexen Spiels zu einigen Verwirrungen, die ich dann mühsam aufklären musste. Auch die Textfenster waren teilweise verschoben oder so überdimensioniert, dass man den entsprechenden Text nicht lesen konnte. Das war besonders ärgerlich, da Tides of Numenera seine Atmosphäre über die Vielzahl an Textfenstern aufbaut.
Enttäuschende Verkaufszahlen
Der Executive-Producer von InXile Entertainment, Brian Fargo, äußerte sich nach dem Release in einem Interview zu den Verkaufszahlen und bezeichnete diese als enttäuschend. Als einen Grund dafür benannte er die großen Mengen an Text, welche für viele potentielle Spieler abschreckend wirken würden. Ich kann dieser Einschätzung nur beistimmen. Planescape: Torment war zu seiner Zeit auch kein Titel, der großen wirtschaftlichen Erfolg hatte. Der Charme des Spiels lag vor allem in der guten Story sowie der Tiefgründigkeit und Vielfältigkeit der Charaktere sowie der Spielwelt. Das ist aber auch das Konzept was die Fans der Serie lieben und wofür das Spiel mit hohen Wertungen ausgezeichnet wird.
Sicherlich würde die Reduzierung von Text und die Einbindung von cinematischen Szenen die Spielserie noch einmal für eine größere Zielgruppe interessanter machen. Hier bedarf es aber einer großen Menge an Fingerspitzengefühl, Fachkompetenz und Mut, um nicht die vorhandene Fan-Community vor den Kopf zu stoßen. Wenn einen die umfangreichen Textpassagen nicht abschrecken, ist Torment: Tides of Numenera auf jeden Fall ein sehr gutes Spiel. Die große innovative und zeitgemäße Weiterentwicklung der Serie ist es aber nicht. Um das zu erreichen, müssen inXile Entertainment auf jeden Fall noch eine Schippe drauflegen und sich stärker in Richtung eines Baldurs Gate entwickeln.
Unser Fazit:
Nach dem großen Erfolg der Kickstarter-Kampagne hatte ich bereits große Bedenken, ob das Projekt das halten kann was es versprochen hatte. Immer wieder hatte ich Befürchtungen das es wegen des großen Erfolgs zu ähnlichen Problemen wie bei der OUYA-Spielekonsole kommen könnte. Gott sei Dank blieben diese Befürchtungen unbegründet und InXile Entertainment konnte ein sehr gutes Spiel abliefern. Zwar konnten einige kleinere Versprechungen wie z.B. das Crafting-System oder die höhere Anzahl von Begleitern nicht geliefert werden. Jedoch konnte InXile immer plausibel begründen, aus welchen Gründen sie diese Schritte gegangen sind. Insgesamt haben Sie damit einen guten Nachfolger von Planescape: Torment geschaffen, der aber leider neben den Stärken auch die Schwächen seines Vorgängers geerbt hat. Will man wirklich das Haar in der Suppe suchen, dann kann man InXile höchstens eine gewisse Mutlosigkeit bei der Einführung von Neuerungen, wie z.B. dem cinematischen oder visuellen Story-Telling, vorwerfen. Auch eine so tolle Welt wie Numenera muss als geistiger Nachfolger nicht auf dem Stand von Planescape: Torment bleiben und darf sich gerne kontrolliert und mit Fingerspitzengefühl weiterentwickeln.
Unsere Wertung:
Das hat uns gefallen:
gute und seriöse Projektplanung auch nach der Kickstarter-Kampagne
Backer stehen immer im Zentrum und werden ausreichend informiert, Backer-Versprechen wurden bis auf wenige Ausnahmen eingehalten
sehr gute Spielumsetzung als geistiger Nachfolger von Planescape: Torment
nach Erreichen der erweiterten Ziele, Entwicklungsteam stetig um weitere Top-Entwickler erweitert
Das hat uns nicht gut gefallen:
Crafting-System fehlt und Anzahl der Gefährten von 9 auf 6 reduziert
kleinere Kinderkrankheiten zum Release, Textfenster-Probleme und deutsche Übersetzung
Spiel ist sehr textlastig, große Neuerungen und visuelles Story-Telling sind kaum vertreten